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Von Leberkrisen, Kreislaufproblemen und anderen Beschwerden: Warum unsere Nachbarn an anderen Krankheiten leiden

Man stelle sich folgende Szene vor: Herr Michel ist Franzose und in Deutschland auf Geschäftsreise. Nach einem üppigen Mahl, bei dem der Geschäftsmann in den Genuss von allen möglichen Speisen und Getränken gekommen ist, die die deutsche Küche zu bieten hat, überkommen ihn starke Magenschmerzen und Übelkeit. Da er sich unwohl fühlt, entschuldigt sich Herr Michel bei seinen deutschen Kollegen für das weitere Abendprogramm mit den Worten: „Ieesch aaabe eine Leberkrise“. Einige deutsche Kollegen runzeln daraufhin die Stirn und schauen den Lebemann aus Frankreich besorgt an. Den Begriff Leberkrise kennen sie nicht. Sie malen sich aus, dass der französische Geschäftspartner an einer schweren chronischen Krankheit leidet und bieten an, ihn ins Krankenhaus zu fahren um seine Leber untersuchen zu lassen. Herr Michel lehnt das freundliche Angebot schmunzelnd ab: Ein Digestif und etwas Ruhe genügen ihm, um sein Unwohlsein auszukurieren. Bei seinen deutschen Kollegen erkundigt er sich: „Kennen Sie das Leiden etwa nicht?“.

Was nach einer lustigen interkulturellen Situation im Geschäftsalltag aussieht, dürfte des Öfteren vorkommen, wenn Touristen oder Menschen, die in einem anderen Kulturkreis groß geworden sind, eine Arztpraxis oder eine Apotheke besuchen. Denn tatsächlich existieren Krankheitsbilder, die es nur in einer bestimmten Kultur oder Sprache gibt. Anthropologen sprechen dann von einem kulturgebundenen Syndrom, wenn eine Gruppe von Symptomen in einer Kultur anders zusammengefasst wird als in einer anderen. Konkret anhand von zwei Beispielen aus deutsch- und französischsprachigen Kulturkreisen geschildert heißt das: Wenn sich ein deutschsprachiger Patient im Ausland ganz selbstverständlich nach einem Mittel gegen seine Kreislaufprobleme erkundigt, wird er bei einem Apotheker im nicht deutschsprachigen Nachbarland auf Unverständnis stoßen – ähnlich wie es Herrn Michel auf Geschäftsreise in Deutschland passiert ist.

Sowohl die Leberkrise als auch die Kreislaufprobleme sind kulturgebundene Krankheitsbilder, die eine ganz diffuse Palette an Unwohlseinssymptomen umfassen können: Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzrasen, Schwindel- und Schwächegefühl, Magenschmerzen und Schweißausbrüche – all diese Symptome sind einzeln für sich auch Menschen aus einem anderen kulturellen Hintergrund bekannt, nicht jedoch die Krankheitseinheiten, die aus einem Netzwerk kulturell gegebener Bedeutungen konstruiert wurden und daher nur in einem bestimmten sprachlichen und kulturellen Kontext Sinn ergeben. Es ist in diesem Zusammenhang spannend darauf hinzuweisen, dass in manchen Kulturen bestimmte Organe häufiger als Erklärung verschiedener Beschwerdebilder genannt werden als in anderen. Dass Franzosen so selbstverständlich über eine „Leberkrise“ klagen, hat auch damit zu tun, dass speziell diesem Organ bei der Erklärung von Erkrankungen in französischsprachigen Ländern ähnlich wie in asiatischen und arabischen Kulturräumen eine größere Bedeutung beigemessen wird als das in deutschsprachigen Ländern der Fall ist. Dagegen sind die von Patientinnen und Patienten in Deutschland, Österreich oder der deutschsprachigen Schweiz oft beklagten „Herz-Kreislauf-Beschwerden“ auch darauf zurück zu führen, dass in Gegenden, in denen Deutsch gesprochen wird, viel öfter das Herz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, wenn es darum geht, eine Erkrankung zu erklären, was nicht zuletzt auch auf die höhere Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen in diesen Ländern zurückzuführen ist.

Wer im Gesundheitsbereich arbeitet und irritiert ist über eine sich auf ein Leiden bezogene Äußerung oder ein Verhalten einer Patientin oder eines Patienten, sollte daher auch im Blick behalten, dass medizinische Traditionen sowie Kommunikationsstile, die mit dem Erleben einer Erkrankung beziehungsweise dem Schmerzempfinden zu tun haben, kulturell geprägt sind. Und hier verhält es sich wie mit allem, was einem von klein auf bekannt ist: Man nimmt es unbewusst als natürlich an und kommuniziert es selbstverständlich. Diese kulturgebundenen Erkrankungen existieren jedoch keineswegs lediglich bei in der Alltagssprache gebräuchlichen Sprichwörtern: Auch wenn die moderne Schulmedizin mittlerweile über einheitliche und weltweit gültige Systeme zur Klassifizierung von Erkrankungen wie dem International Classification of Diseases (ICD) verfügt, ist auch die an den modernen Naturwissenschaften orientierte Schulmedizin immer auch von verschiedenen kulturellen Bedeutungssystemen beeinflusst und kein einheitliches, geschlossenes, sondern ein dynamisches Gebilde. Fachkräfte im Gesundheitsbereich sollten daher bei der Diagnose und bei der Auswahl der Behandlungsart nicht nur die physiologischen Symptome, sondern auch kulturelle Bedeutungssysteme, Praktiken sowie die soziale Situation der Patientin oder des Patienten berücksichtigen.

Kulturell unterscheiden kann sich:

  • was wir als Krankheit verstehen,
  • wie wir Schmerz empfinden,
  • wie wir uns bei einer Krankheit verhalten (z.B. Ruhebedürfnis vs. Bedürfnis nach  sozialen Kontakten),
  • ob und wen wir im Krankheitsfall aufsuchen,
  • welche Behandlungsart wir als sinnig betrachten,
  • wie wir über die Erkrankung kommunizieren (verbal, paraverbal, nonverbal),
  • was wir als Tabuthema bezogen auf die Erkrankung empfinden.
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