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Impfpflicht oder Aufklärung – Wie Impfraten erhöht werden können

Impfen ist eine vergleichsweise kostengünstige Maßnahme der Krankheitsprävention und erzielt zugleich eine große Wirkung: Wenn sich etwa 80% eines Jahrgangs gegen Masern, Mumps und Keuchhusten impfen lassen, reduziert das das Risiko, dass sich diese Krankheiten ausbreiten. Man spricht dann von einer Herdenimmunität. Das bedeutet, dass ab einer gewissen Impfrate auch solche vor einer Ansteckung geschützt sind, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft werden können. Auch wenn die Vorteile der Schutzimpfungen auf der Hand liegen, bleibt die Gruppe der Impfkritiker bestehen. Wie kann ein moderner Vorsorgestaat in einer derartigen Situation vorgehen? Von der Impfpflicht bis zur Impfberatungspflicht und gesundheitlichen Aufklärungsarbeit – verschiedene Lösungswege in der Infektionsbekämpfung und wie diese im kulturellen Sozialstaatsverständnis verankert sind.

Solidaritätsnarrativ im Rahmen einer breit angesetzten Aufklärungspolitik

Bis 1974 galt in Deutschland noch das Reichsimpfgesetz, das noch aus Bismarcks Zeiten stammt. Das Gesetz erklärte die Pockenimpfung in der Bundesrepublik bis 1976 zur Pflicht. In der DDR wurden ebenfalls seit den 1950er Jahren neben der Pockenimpfungen weitere systematische Impfungen eingeführt (u.a. gegen Diphtherie, Wundstarrkrampf, Keuchhusten, Tuberkulose und Kinderlähmung). Solange die Impfpflicht galt, hatte in der Bundesrepublik und der DDR mit Haft- und Geldstrafen zu rechnen, wer sich diesen Vorsorgemaßnahmen widersetzte. Während die Impfpflicht auf ostdeutschem Gebiet bis zum Ende des Regimes auf 17 Impfstoffe ausgeweitet wurde, setzte sich in der Bundesrepublik ab Mitte der 1970er Jahre allmählich das Prinzip der Freiwilligkeit durch. Die Bevölkerung sollte fortan mit Hilfe von Appellen und einer gezielten Informationspolitik von den positiven Effekten der Schutzimpfungen überzeugt werden. Aufklärungsarbeit war angesagt. Dieser Paradigmenwechsel erfolgte kurz nach der Gründung einer Struktur, dessen Leitmotiv die gesundheitliche Aufklärung ist. Die 1967 ins Leben gerufene Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat seither verschiedene Aufklärungskampagnen zum Infektionsschutz durchgeführt. Im Gedächtnis geblieben ist bei vielen noch die 2012 unter dem Motto „Deutschland sucht den Impfpass“ gestartete Kampagne zur Masernimpfung, die auch in einigen Kinosälen gelaufen ist. Anders als im Kinospot dürften jedoch einige Bevölkerungsgruppen den Impfpass dauerhaft verlegt haben: Die Impfbereitschaft ist zwar mit einer Rate von ca. 90% pro Jahrgang relativ hoch, die Impfmüdigkeit steigt jedoch besonders in wohlhabenderen Kreisen. Gleichzeitig wird die zweite Impfung für Masern, Mumps und Röteln noch von vielen Eltern verschlafen.

Seit dem 25. Juli 2017 ist daher eine Änderung im deutschen Infektionsschutzgesetz in Kraft getreten: Ab sofort müssen Eltern bei der Erstaufnahme in einer Tageseinrichtung ihres Kindes einen Nachweis über ihre Teilnahme an einer Impfberatung erbringen. Diese wird durch eine beratende Ärztin bzw. einen beratenden Arzt angeboten und erfolgt nach den Richtlinien der Ständigen Impfkommission (STIKO). Den Eltern steht es weiterhin frei, ob sie ihre Kinder impfen lassen oder nicht. Es soll jedoch vor dem Hintergrund verschiedener Masernausbrüche das soziale Verantwortungsgefühl der Eltern gestärkt werden sowie die Bereitschaft, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Im Fall, dass dieser Nachweis nicht übermittelt wird, muss die Leitung der Kindertageseinrichtung das Gesundheitsamt benachrichtigen, das wiederum die Eltern vorladen kann. Es existiert insofern in Deutschland keine Impfpflicht, sondern eine Impfberatungspflicht. Im Rahmen der Einschulungsuntersuchung wird zudem der Impfstatus der zukünftigen Schulanfängerinnen und –Anfänger bestimmt. Kampagnen, Informationsmaterial und Impfempfehlungen können auf der Plattform https://www.impfen-info.de/ der BZgA abgerufen werden.

Impfpolitik als neues Thema auf Bundesebene

Auch in der Schweiz setzt man auf eine umfangreiche Aufklärungsarbeit, um gegen die Impfmüdigkeit vorzugehen. Es ist vor allem das schweizweit agierende Bundesamt für Gesundheit, das Informationskampagnen steuert. Seit 1963 gibt diese Verwaltungsebene gemeinsam mit der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) zudem auch Impfempfehlungen heraus, die jedoch wie der Name suggeriert nicht obligatorisch sind. In den letzten Jahren stand die Masernbekämpfung besonders im Fokus der politischen Bemühungen: Seit der letzten Masern-Epidemiewelle zwischen Dezember 2010 und August 2011 bietet das BAG auf der Webseite www.Stopmasern.ch Tipps zur Impfung und Informationen zur Krankheit an und es wurde 2011 unter dem Motto „Gib Masern keine Chance“ die Nationale Strategie zur Masernelimination ins Leben gerufen. Die Impfpolitik ist damit eine der wenigen Teilbereiche in der schweizerischen Gesundheitspolitik und speziell im Bereich Prävention, die auf bundesweiter Ebene behandelt werden.

Auch internationaler Druck spielte eine Rolle: So hat das BAG 2017 zusammen mit den Kantonen und weiteren Akteuren die Nationale Strategie zu Impfungen (NSI) ausgerufen. Die Strategie geht auf das Argument zurück, dass die Schweiz trotz eines sehr leistungsfähigen Gesundheitssystems die von der WHO gesetzten Impfziele nur teilweise erreicht. Daher hatte das Epidemiengesetz vom 28. September 2012 das BAG damit beauftragt, ein Nationales Impfprogramm auszuarbeiten. Entstanden ist dabei eine Rahmenstrategie mit einem Maßnahmenbündel, das ganz vielfältige Themen umfasst wie unter anderem Sensibilisierung, Unterstützung der Akteure, einen erleichterten Zugang zu Impfangeboten und Fortbildung des medizinischen Personals. Die Bemühungen, in der Masernbekämpfung internationalen Standards zu entsprechen, scheinen sich immerhin schon gelohnt zu haben. So ist die Masern-Durchimpfung bei jungen Erwachsenen von 77% im Jahr 2012 auf 87% im Jahr 2015 gestiegen. Die Tatsache, dass der Bereich Impfpolitik relativ spät erst auf die politische Agenda gesetzt wurde, lässt sich auch darauf zurückführen, dass die Freiheit und Eigenverantwortung des Einzelnen in der Schweiz insbesondere im Bereich der Prävention einen wichtigen Grundpfeiler darstellen. Dazu passt auch, dass es ähnlich wie es bislang in Deutschland der Fall war, in der Schweiz weder eine Impfpflicht, noch eine Impfberatungspflicht gibt, sondern vielmehr auf Grundlage des Menschenbildes eines mündigen Bürgers, der selbst entscheidet, was für ihn das Richtige ist, in Aufklärungsarbeit investiert wird.

Impfpflicht im Fürsorgestaat: Das Gemeinwohl vor der Entscheidung des Einzelnen

Ein etwas weniger libertärer Wind weht in Frankreich. Neben vielfältigen Informationsangeboten und Kampagnen, die unter anderem vom französischen Gesundheitsministerium und der staatlichen Agentur Santé Publique France durchgeführt werden und Impfempfehlungen, die vom Comité technique des vaccinations (CTV) ausgearbeitet werden, gibt es auf der anderen Seite des Rheins sogar eine Impfpflicht für bislang drei Impfstoffe: Diphterie, Polio und Tetanus – im französischen Überseedepartement Guyana ist außerdem der Gelbfieberimpfstoff verpflichtend. Diese Impfpflicht soll einem aktuellen Gesetzesvorschlag zufolge zum 1. Januar 2018 sogar von drei auf elf obligatorische Impfstoffe erweitert werden. Darunter: Keuchhusten, Hepatitis B, das Bakterium Haemophilus influenzae Typ b, Pneumokokken, Meningokokken, Masern, Mumps und Röteln. Der französische Premierminister Édouard Philippe hatte in seiner Regierungserklärung eigens die Impferweiterung zur Chefsache erklärt: „Im Land von Pasteur sterben heute noch Kindern an Masern, das ist nicht tragbar“, erklärte Philippe im Juli dieses Jahres. Sein Projekt, das auch von der Gesundheitsministerin Agnès Buzyn unterstützt wird, ist jedoch stark umstritten, zumal die Impfskepsis auch in Frankreich steigt. So ist nach verschiedenen Skandalen rund um die Einführung von neuen Medikamenten die Gruppe der Impfgegner in Frankreich zwischen 2000 und 2016 von 10 auf 25% angestiegen.

Doch der französische Staat beharrt auf die Impfpflicht: Zuletzt hatte ein an Alternativmedizin orientiertes Ehepaar den obligatorischen Charakter der Schutzimpfungen vor Gericht angefochten und darauf verwiesen, die Impfstoffe enthielten gefährliche Substanzen, die das Wohl ihrer Kinder gefährdeten. Der Fall ist bis zum französischen Verfassungsrat gegangen, der jedoch in seinem Beschluss, die Verfassungsmäßigkeit der Impfpflicht bestätigte. In Frankreich hat die obligatorische Impfung für Kleinkinder jedenfalls eine lange Tradition und konnte große Erfolge für sich verbuchen: Noch in einer Zeit eingeführt, in der Epidemien sehr verbreitet waren (1902 Pockenimpfung; 1938 Diphterie; 1940 Tetanus; 1950 Tuberkulose; 1964 die Polio-Impfung), konnten die Pflichtimpfungen Infektionskrankheiten wie Polio und Röteln quasi verdrängen. Aus heutiger Sicht lässt sich ohne Zweifel sagen, dass bis auf die Einführung der Abwasserreinigung keine andere Maßnahme der öffentlichen Gesundheitspolitik eine ähnlich herausragende Wirkung erzielt hat.

In Deutschland, wo Masernepidemien besonders in Ballungsgebieten wieder an der Tagesordnung sind, wird derzeit vermehrt über die Einführung einer Impfpflicht diskutiert. Für deutsche und schweizerische Bürgerinnen und Bürger, für die die Freiheit des Einzelnen, über den eigenen Körper zu bestimmen, höchstes Gut ist, mag die französische Präventionspolitik etwas paternalistisch anmuten. Fakt ist jedoch auch, dass Länder wie Deutschland oder die Schweiz von Impfraten von bis zu 95% nur träumen können. Zwischen dem Gemeinwohl und der Freiheit des Einzelnen abzuwägen, ist ein bedeutendes Spannungsfeld der Sozial und Gesundheitspolitik, das immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

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